Beziehungen

17 Mrz Beziehungen sterben nicht!

Mein Nachruf an Fr. Dr. Leist
Beziehungen sterben nicht!

Etwas kommt, etwas geht und etwas bleibt. Das ist der ständige Kreislauf in Beziehungen.
Manchmal endet das Kommen und Gehen. Etwas bleibt in unseren Herzen, in unseren Sinnen, aufgerufen von unseren Erinnerungen.

Ich widme meinen ersten Beitrag in meinem Blog, der über das Leben, von Beziehungen, Menschlichkeiten und den Umgang mit Erlebnissen und Erfahrungen handeln wird, einer Frau, die vor viereinhalb Jahren in mein Leben trat.

Fr. Dr. Leist und ich

Nachdem ich meine Praxis hier in Filderstadt eröffnete, las ich eine Anzeige. Es wurde jemand als Urlaubsvertretung für die Betreuung einer Dame gesucht.
Ich stellte mich vor und bekam eine Zusage. Es war im Sommer 2010. Als ich im Wohnzimmer dieser Dame saß, sie wohnte damals im Augustinum, beobachtete mich still eine kleine zierliche in blau gekleidete Frau. Sie wurde mir kurz vorgestellt. Ihr Körper sagte aus, dass sie ihre Ruhe wollte, aber ihre Augen musterten mich dennoch neugierig.

Ich selbst bin ein eher ruhiger Mensch und beobachte, weil ich das am besten kann. Deshalb sagte ich sehr wenig in Worten und wandte mich ihr nonverbal dezent zu. Ich hörte die Worte der Betreuerin, die mich ihr vorstellte und beobachtete die Reaktionen von Fr. Dr. Leist. Irgendwie schlich sich mir das Empfinden ein, diese fremden Menschen in ihrem Wohnzimmer zu haben, war ihr nicht recht. Wir verabschiedeten uns nach ungefähr einer halben Stunde. Das nächste Mal würde ich alleine kommen, da besagte Betreuerin in den Urlaub ging.

Ich klingelte und fragte ich mich ob sie mir öffnen würde. Sie tat es. Und sie ließ mich herein. Es war äußerst seltsam in ihrem Wohnzimmer zu sitzen und jetzt einfach so da zu sein für sie. Ich fragte mich, was sie wohl darüber denken mag, das hier einfach eine wildfremde Person sitzt und sich mit ihr unterhält. Ich stellte mich erst mal vor und erzählte ihr ein paar Dinge aus meinem Leben. Das ich die Andrea sei und jetzt viermal die Woche bei ihr wäre, solange die andere Betreuerin im Urlaub sei. Und das ich noch gar nicht lange in Filderstadt wohne und eine psychologische Praxis eröffnet habe.

Sie hörte mir in ihrer stillen fast reglosen Art zu. Ich schenkte ihr etwas zu trinken ein. Sie trank. Dann erzählte ich ihr von der Beziehung zu meinem Kater, über seine Persönlichkeit und seine Gewohnheiten. Sie lachte. Das Eis war gebrochen.

In den darauffolgenden Wochen erzählte auch sie mir viel. Auf ihre ganz eigene Art. Mit ihren Worten. Wir lachten viel, gingen spazieren, bewunderten die Natur und ließen uns aufeinander ein. Täglich mehr. Ich wurde gefragt, ob ich bleiben möchte. Es ginge ihr mit mir gut und sie sei besser drauf. Ich überlegte kurz ob ich das mit der Praxis vereinen könnte und ob ich wirklich Willens war, diese Beziehung zu führen, bis ans Ende. Etwas anderes kam für mich nicht in Frage. Wenn Beziehung, dann ganz. So bin ich eben. Ich sagte zu. Aus einer Urlaubsvertretung wurde ein Dauerauftrag. Aus einer Betreuung wurde eine Beziehung und schließlich Freundschaft.

Ich lernte sie kennen und sie mich. Ich sagte ihr, dass wir gut zusammenpassen würden, sei ich doch auch wie sie sehr an Büchern interessiert und an Wissen und auch eher eine ruhige und nachdenkliche Person. Genau wie sie. Jedes Mal wenn ich ihr ihre Persönlichkeit beschrieb lachte sie und fing an zu erzählen. Auf ihre Art. Verbal mit ihren eigenen Worten und nonverbal mit ihrem ganzen Sein.

So vergingen Wochen und Monate. Wir gingen zusammen essen, brachten ihre Wäsche in die Wäscherei, bewunderten Blumen und stellten immer wieder verschiedene Sorten in ihre Vase auf ihren Tisch. Wir schauten uns Fotoalben an. Ich las ihr vor was sie zu den einzelnen Fotos geschrieben hatte. In mir tat sich ihre Welt auf. Ich sah sie als taffe Frau, die wusste was sie will und genau das respektierte ich. Manchmal jedoch, wenn ich kam und lüften wollte, machte sie sofort die Balkontür wieder zu und bestand darauf das dies nicht gut sei, die zu öffnen. Es herrschte dann im wahrsten Sinne der Worte „dicke Luft“. War sie mal kurz aus dem Zimmer machte ich wieder auf und sie dann energisch wieder zu.

Nur einmal wurde sie sehr wütend auf mich. Sie ging auf mich zu, voller Wut und ich spürte wie ich damit in Resonanz ging. Auch in mir stieg diese Energie die man Wut nennt hoch. Doch bevor sie oben ankam und auszubrechen drohte, drückte ich sie wieder beruhigend nach unten. Sofort beruhigte sich auch Fr. Dr. Leist. Das ist ein Erlebnis wofür ich ihr sehr dankbar bin. Noch heute erzähle ich in meiner Praxis davon, wie man es spürt, wenn man in Resonanz geht, dies aber verändern kann und sich im Gegenüber dann auch etwas verändert. Dieses spürende Wissen ist gerade in Beziehung zu anderen wichtig.

Wir feierten zusammen meinen 44. Geburtstag. An diesem Tag wurde mir erstmals klar, das dies eine Freundschaft geworden war. Als wir uns an diesem Tag verabschiedeten beugte sie sich aus ihrer Wohnungstür und winkte mir nach auf meinem Weg zum Aufzug. Sie lächelte und wischte sich ein paar imaginäre Tränen mit der Hand aus dem Gesicht. Mir stiegen vor Rührung Tränen in die Augen. Ich verabschiedete mich von ihr, indem auch ich kräftig winkte und übers ganze Gesicht strahlte. Dies ist für mich einer der unvergesslichen Momente mit ihr.

Es folgten noch mehr solche Momente. Als wir zusammen in der Wilhelma waren. Unsere stillen und bedächtigen Momente bei Spaziergängen. Ihre Erzählungen wenn sie Besuch gehabt hatte. Ihre Pflege der Pflanzen auf ihrem Balkon. Die Aussicht dort, die wir zusammen genossen. Als sie mich einmal ganz plötzlich in den Arm nahm und zu mir sagte, sie wisse es, ich sei eine ganz Liebe. Es war jedes Mal schön bei ihr zu sein. Bei ihr vergaß ich meine Sorgen, Nöte und Probleme, die ich zur damaligen Zeit hatte. Bei ihr konnte ich diese vor der Tür ablegen und nahm sie erst wieder an mich als ich ging. Darauf achtete ich ganz besonders, dass ich davon nichts mit zu ihr nahm.

In diesem Moment, jetzt wo ich dies schreibe, wird mir dies wieder bewusst und mir laufen die Tränen übers Gesicht. Sie fehlt mir. Gleichzeitig weiß ich, dass dieses Erleben, diese Erfahrungen die ich mit Fr. Dr. Leist hatte von unschätzbarem Wert in mir bleiben.

Vieles werde ich nie vergessen. Ihr Umzug nach Bethanien und wie schwer es ihr fiel sich an diese neue Umgebung zu gewöhnen. Nach einem Leben in Selbstbestimmung und Freiheit nun in ständiger Betreuung. Ich half ihr so gut ich konnte. Es dauerte ungefähr ein halbes Jahr und dann wachte sie innerlich wieder auf und gab sich ihrer Umgebung hin. Es war fast so wie vorher. Unsere Beziehung half ihr dabei sich einzugewöhnen und mir, mich daran zu gewöhnen, dass wir nun nicht mehr allein waren, sondern viele Menschen um uns herum. Ich denke das ist auch ihr am schwersten gefallen, diese Akzeptanz, dass ständig jemand um sie herum war und etwas von ihr wollte.

Dann kam Max zu mir, mein Therapiehund. Sie baute auch zu ihm eine Beziehung auf. Und es war erstaunlich wie sanft dieser ungestüme Welpe zu ihr war und wie sehr er sie respektierte. Ich sagte ihr stets, dass sie Max gut im Griff habe. Sie freute sich darüber. Es war mir stets wichtig, ihr ein Gefühl für sich selbst zu vermitteln. Für ihre Selbstwirksamkeit. Ich glaube das schätzte sie an mir besonders. Wenn ich bei ihr war, waren ihre Bedürfnisse meine Bedürfnisse. Und das kompromisslos.

Fr. Dr. Leist war eine taffe Frau. Sie studierte in einer Zeit Physik, als es noch ungewöhnlich war für eine Frau zu studieren. Sie machte ihren Doktor und wurde stellvertretende Direktorin an der Universität Stuttgart. Als ich sie kennen lernte, war sie 90 Jahre alt und an Alzheimer Demenz erkrankt. Sie war der lebendige Beweis dafür, dass unser Gehirn Neuroplastisch bleibt bis an unser Lebensende. Auch in einer Demenz. Auf der einen Seite konnte sie noch Beziehungen aufbauen, auf der anderes Seite baute sie ab. Ihre Demenz umfasste die Sprachausgabe. Verstanden hat sie alles, bis zuletzt. Und ich bewundere sie noch heute. Ihre ruhige und gefasste, disziplinierte Art. Ihr feinsinniger Humor und ihre Liebe zur Natur.

Als sie wegen einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag, klebte ich ihr Bilder von Katzen an die nackten, kahlen, weißen Wände. Wie ich vermutete, ihre Angst vorm Ersticken baute sich beim Betrachten der Bilder allmählich ab. Ich machte einen Deal mit ihr. Wenn Sie es schaffte wieder nach Bethanien zu kommen, dann würde ich ihr eine kleine Katze mitbringen, die ich gerade bei mir hatte. – Damals war mir noch nicht klar, dass diese Katze zu meiner neuen Therapiekollegin werden würde – Sie schaffte es und lernte Snowi kennen. Sie lebte nochmals so richtig auf. Sie berührte Max und sprach mit ihm und sie streichelte mich lächelnd an der Wange mit den Worten, ich sei eine ganz Liebe.

Doch dann ging es immer mehr dem Ende zu. Sie konnte nicht mehr schlucken. Das Stammhirn war angegriffen.
Sie starb friedlich im Wissen, dass sie liebevolle Menschen um sich hat. Wir als Betreuungsteam, zusammengestellt von Rosemarie Ködel, waren immer für
unsere Fr. Dr. Leist da. In ihren letzten Tagen sogar fast lückenlos, damit sie fühlen konnte, wir sind immer da.

Liebe Frau Dr. Leist,

ich danke Ihnen für all diese wunderbaren, genussvollen und lehrreichen Erfahrungen in unserer Beziehung. Dafür, dass Sie mich darin bestätigten, dass entgegengesetzt der landläufigen Meinungen, man von an Demenz erkrankten Menschen durchaus auch etwas zurückbekommt.

Man muss nur genau hinhören. Nonverbal! Dafür, dass ich mich von Ihnen in Dankbarkeit verabschieden konnte. Dafür das ich lernen konnte, wie es ist, einen Menschen der einem viel bedeutet, langsam und allmählich loszulassen. Ich kannte nur plötzliche Verluste. Dafür, wie es ist, jemanden auch nach seiner Zeit im Herzen zu tragen. Es ist, wie ich es Ihnen versprochen habe: „Ich nehme Sie mit, als Blüte in meinem Herzen!“ Dies ist die Beziehung über den Tod hinaus.

In tiefer Dankbarkeit

Ihre Andrea